Notizen aus dem Eis 137 | Die Ruhe mitten im Sturm

Polarkolumne von Birgit Lutz




Es gibt Farben auf Windkarten, die sieht man nicht so gerne. Dunkelrot gehört dazu. Und noch viel weniger mag man lila. Sieht gut aus, so bunt. Ist es aber nicht.

Wohlgemut brachen wir auf unserem kleinen Schiffchen im August auf, rund um Spitzbergen, im Uhrzeigersinn. Eine schöne Landung folgte der anderen, wir wanderten, sahen Tiere, erreichten auch schnell sogar die Sieben Inseln, in beinah flachem Wasser und schönen Stimmungen. Aber dann begann die Windkarte, sich zu verfärben. Windkarten sind tolle Einrichtungen, ohne sie wäre schon so manche Reise ganz anders und weniger ruhig verlaufen. Denn wenn man Windkarten gut lesen kann, kann man früh genug umplanen und findet fast immer noch ein bisschen Schutz. Oder weicht gleich ganz im großen Stil aus.

Darauf lief es bei uns hinaus. Es baute sich da ein Wind auf, von Norden kommend, der in Orkanstärke die Westküste entlang wehen würde. Schaute ich neben der rotlila Wind- auch noch auf die lilarote Wellenkarte, wurde ich schon vorauseilend dunkelgrün im Gesicht. Auf den Windkarten sieht man, woher der Wind kommt, und wie schnell. Man kann dann auf eine Wellenansicht umschalten, dann sieht man, wie hoch die Wellen sein werden und aus welcher Richtung.

Dann muss man noch wissen, was das Schiff so kann, auf dem man unterwegs ist. Kleine Schiffe können sich generell vor allem erstaunlich bewegen. Von der Seite sind hohe Wellen schlecht, weil das Schiff dann rollt und rollt und rollt, und wenn sich unrhythmisch die Kabine immer wieder wie ein Lawinenhang aufstellt, das ist nicht schön. Es gibt für solche Fälle Bretter, die man in den Bettrand steckt, damit man nicht hinausfällt. Besser ist, man braucht sie nicht. Von vorne sind hohe Wellen auch schlecht, weil man dann pitchend gegen die Wellen anfährt, das Schiff hebt und senkt sich, dass es eine Freude ist. Das ist auf dem Piratenschiff auf dem Oktoberfest eine Weile lustig, aber stundenlang im Ozean eher nicht so.

Glücklicherweise hatte ich in der Vergangenheit einige sehr gute Lehrmeister, die es mir nicht übelnahmen, wenn ich ihnen zu Wind, Wellen, erwartbarer Dünung und vielem mehr Löcher in den Bauch fragte. Ich schaute jahrelang Menschen beim Routenplanen zu und fragte immer wieder, warum sie so und nicht anders entschieden hatten. Ich lernte Spitzbergens Eigenheiten kennen, wann man wo Schutz suchen kann und wann wo gar nicht. Denn, und das ist das Entscheidende, die Windkarten stimmen manchmal nicht. Dann braucht man Erfahrung.

Je nach Topographie und Windrichtung gibt es in Spitzbergen einige Sondereffekte, bei denen man weiß, hier sieht es auf der Karte zwar ruhig aus, das wird es aber nicht sein. Der Hornsund mit seinem Tunneleffekt ist so ein Beispiel, wo der Wind unter bestimmten Bedingungen oft viel stärker ist als vorhergesagt. Umgekehrt gibt es Orte, an denen auf der Karte alles rot ist, in Wahrheit aber ist es windstill. Das ist in Signehamna beispielsweise oft der Fall. Das lernt man mit den Jahren, wenn man selbst plant und wenn man viel fragt.

Und als nun alles rot und immer röter und irgendwann sogar lila wurde, fing ich an, immer wieder aufs Neue die geplante Route abzufahren, auf der Karte natürlich, und dazu den Wind der nächsten Tage laufen zu lassen. Keine der Kombinationen sah so aus, als würden wir das gerne erleben wollen und irgendwann war klar: Das geht einfach gar nicht. Wir müssen umdrehen. Wir kommen hier nicht um die Südspitze Spitzbergens herum, und schon gar nicht dann die Westküste in Richtung Norden weiter. Wenn Umrundungen nicht klappen, ist das erstmal keine schöne Nachricht. Uns half aber die Natur, denn an dem Morgen, an dem wir die endgültige Entscheidung trafen, sahen wir einen Eisbären. Und wie schön! Die Bärin hatte sich vollgefressen an einem Kadaver und wusch sich nun im Schnee. Sie wälzte sich einen Hang hinunter und wieder hinauf, dass es eine Freude war. Wir konnten ihr lang und länger zuschauen und alle waren froh. Der Nachmittag sollte uns zum Bråsvellbreen bringen, die Front des großen Eisschilds Nordaustlandets, auf die sich alle freuten. So ging meine Planänderungsinformation zum Mittagessen beinahe unter, denn alles war einfach so schön an diesem Tag!

Wir drehten also um. Von Fjord zu Fjord sprangen wir zurück, konnten so doch noch zum Monacobreen, den wir ausgelassen hatten, und die Schaukelei draußen auf See hielt sich noch in Grenzen. Die Westküste hinunter hatten wir diesen Wind im Rücken, dem wir aber gerade noch so zuvorkamen und uns schnell in den Schutz des Prins Karl Forlands begaben – und in den St Jonsfjord hinein, an dem man so oft vorbeifährt.

Das rote Ungetüm schob sich aber derweil immer weiter auch auf die Inseln und wollte nicht mehr draußen bleiben. Nur ganz hinten, im hinterletzten Eck des St. Jonsfjords, an dessen Nordseite hohe Berge stehen, war die Windkarte noch grün. Und mit den dortigen Bergen im Kopf war ich mir sicher, dass das gut werden würde.

Wieder planten wir um und fuhren also zu diesem letzten grünen Zipfel. Grün auf der Karte ist gut, da bleiben die Gesichter rosig. Und siehe da, so war es dann auch. Am Ende des St. Jonsfjords schieben sich zwei Gletscher ins Meer, der Konow- und der Osbornebreen. Zwischen diesen beiden Gletschern erhebt sich der Valentinsryggen, ein Bergrücken, den man gut hinaufwandern kann, und wenn man dann oben ist auf seinen 275 Höhenmetern, schaut man rechts und links auf Gletscher.

Und was soll man sagen, eine Zeitlang war es dort oben windstill. Wir staunten diese Eismassen und Spalten und Windungen und Mittelmoränen und Steine und Felsen an. Und konnten kaum glauben, dass wir hier so stehen konnten, während draußen mit dem großen Kochlöffel im Meer gerührt wurde. Die Ruhe im Sturm, wir hatten sie gefunden. Eines jener wundervollen Beispiele, dass Pläne zu ändern zu viel schöneren Erlebnissen führen kann als einfach immer weiterzumachen. Das lehrt sie einem fürs Leben, die Arktis.

Wir lesen uns im Oktober!

Polare Grüße,
Eure
Birgit Lutz


Birgit Lutz, eine preisgekrönte Autorin und ehemalige SZ-Journalistin, ist Expeditionsleiterin und gefragte Rednerin.
Ihre Polarkolumne erscheint einmal pro Monat auf unserer Homepage.



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